Einleitung
Das Yoga Sutra von Patanjali ist ein grundlegender Text der Yoga-Philosophie, der die Essenz und den Weg des Yoga in prägnanten Versen (Sutras) darlegt. Diese Verse bieten eine tiefgreifende Anleitung für die spirituelle Praxis und persönliche Entwicklung. In diesem Blog-Artikel tauchen wir ein in die Weisheit der ersten drei Verse des Yoga Sutra und erforschen ihre Bedeutung für die Yoga-Praxis und das Leben im Allgemeinen.
Vers 1: Jetzt beginnt der Weg (atha yoga-anuśāsanam)
अथ योगानुशासनम्॥१॥
„Jetzt beginnt die Unterweisung im Yoga.„
Mit diesem ersten Vers öffnet sich die Tür zur Welt des Yoga. Das Wort „atha“ bedeutet „jetzt“ und betont die Bedeutung des gegenwärtigen Moments. Es ist eine Einladung, die Vergangenheit loszulassen und sich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. „Atha“ kann aber auch als „günstiger Moment“ oder „Übergang“ interpretiert werden. Es impliziert, dass dieser Moment, in dem wir uns der Lehre des Yoga zuwenden, ein besonderer Moment ist – ein Moment der Bereitschaft, uns auf den Weg der Selbsterkenntnis zu begeben. Diese Bereitschaft entsteht oft nach einer Phase der Vorbereitung, in der wir uns innerlich geöffnet haben für die Suche nach einem tieferen Sinn im Leben. Der Vers impliziert auch, dass die Veränderung von innen kommt.
Vyasa, ein bedeutender Kommentator des Yoga Sutra, beschreibt fünf verschiedene Geisteszustände:
- Mūḍha (dumpf): Der Geist ist träge, schwerfällig und unklar. Tamas, die Qualität der Trägheit und Dunkelheit, dominiert in diesem Zustand.
- Kṣipta (zerstreut): Der Geist springt von einem Gedanken zum nächsten, ist unruhig und unkonzentriert. Dies ist oft der Fall, wenn Rajas, die Qualität der Aktivität und Unruhe, im Geist vorherrscht.
- Vikṣipta (teilweise fokussiert): Der Geist ist zwar fähig, sich auf ein Objekt zu konzentrieren, wird aber immer wieder von ablenkenden Gedanken abgelenkt. Sattva, Rajas und Tamas sind in diesem Zustand relativ ausgeglichen.
- Ekāgrata (fokussiert): Der Geist ist ruhig und konzentriert, auf ein einziges Objekt gerichtet. Sattva, die Qualität der Reinheit und Klarheit, ist in diesem Zustand dominant.
- Nirodha (vollständig zurückgehalten): Alle Gedankenwellen sind zur Ruhe gekommen, der Geist erfährt einen Zustand vollkommener Stille. Dies ist der Zustand des Samadhi, in dem die wahre Natur des Selbst erkannt wird.
Diese fünf Geisteszustände zeigen, dass unser Geist ständig in Bewegung ist und von den drei Gunas – Sattva, Rajas und Tamas – beeinflusst wird. Yoga ist der Weg, diese Bewegungen zu harmonisieren und den Geist in einen Zustand der Klarheit und Stille zu führen.
Vers 2: Den Geist beruhigen (yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ)
योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः॥२॥
„Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedankenwellen im Geist.“
Dieser Vers liefert eine prägnante Definition von Yoga. Er beschreibt Yoga als die Fähigkeit, die geistigen Aktivitäten zu kontrollieren. Die „Vrittis“ sind die ständigen Gedanken, Emotionen und mentalen Muster, die unseren Geist bewegen. Yoga ist der Prozess, diese Bewegungen zu beruhigen und einen Zustand innerer Stille zu erreichen.
Um diesen Prozess zu veranschaulichen, verwendet Patanjali das Bild eines Sees: Nur wenn die Wellen des Sees still sind, können wir den Grund klar sehen. Genauso ist es mit unserem Geist: Wenn die Wellen der Gedanken zur Ruhe kommen, können wir die wahre Natur unseres Selbst erkennen.
Der Geist wird auch mit einem Zöllner verglichen, der den Austausch zwischen Seele und Körper, zwischen reinem Bewusstsein und der materiellen Welt, reguliert. Yoga zielt darauf ab, den Geist zu schulen und zu disziplinieren, um diesen Austausch zu ermöglichen.
Asanas und Pranayama sind wichtige Werkzeuge, um die „Vrittis“ zu beruhigen und den Zustand des Yoga zu erreichen. Durch die körperlichen Übungen (Asanas) bringen wir unseren Körper in Balance und schaffen eine stabile Grundlage für die geistige Praxis. Durch die Atemübungen (Pranayama) lernen wir, unseren Atem zu kontrollieren und den Fluss der Lebensenergie (Prana) zu harmonisieren. So schaffen wir die Voraussetzungen für einen ruhigen und klaren Geist.
Vers 3: Die wahre Natur des Sehers (tadā draṣṭuḥ svarūpe ‚vasthānam)
तदा द्रष्टुः स्वरूपेऽवस्थानम्॥३॥
„Dann ruht der Seher in seiner wahren Natur.“
Dieser Vers beschreibt den Zustand, der erreicht wird, wenn die Gedankenwellen zur Ruhe gekommen sind. Der „Seher“ (draṣṭṛ) ist unser wahres Selbst, die Seele (puruṣa), die jenseits unserer Persönlichkeit, unserer Rollen und unserer Identifikationen liegt. Der Seher ist das reine Bewusstsein, das die Welt beobachtet, ohne selbst von ihr beeinflusst zu werden.
Um die Natur des Sehers zu verstehen, ist es hilfreich, sich die Frage zu stellen: Wer ist es, der sieht? Wir haben Augen, die Licht und Bilder aufnehmen, aber das Sehen selbst findet im Geist statt. Der Geist ist wie eine Leinwand, auf die die Sinneswahrnehmungen projiziert werden. Der Seher ist derjenige, der diese Projektionen beobachtet, ohne sich mit ihnen zu identifizieren.
Wenn der Geist still ist, kann der Seher in seiner eigenen Natur ruhen, die als reines Bewusstsein beschrieben wird. Es ist eine Einladung, sich selbst zu fragen: Wer bin ich wirklich, jenseits meiner Gedanken und Emotionen?
Yoga Sutra in verschiedenen Traditionen
Die ersten drei Verse des Yoga Sutra werden in verschiedenen Yoga-Traditionen unterschiedlich interpretiert und angewendet:
- Hatha Yoga: Im Hatha Yoga liegt der Schwerpunkt auf der körperlichen Praxis (Asanas und Pranayama) als Vorbereitung auf die höheren Stufen des Yoga. Die ersten drei Verse werden als Grundlage für die Praxis verstanden, die den Körper und Geist reinigen und harmonisieren soll.
- Raja Yoga: Im Raja Yoga, dem Yoga der mentalen Kontrolle, stehen die Meditation und die Kontrolle der Gedankenwellen im Vordergrund. Die ersten drei Verse werden als Anleitung zur Erlangung von Samadhi, dem Zustand der vollkommenen geistigen Konzentration, interpretiert.
- Jnana Yoga: Im Jnana Yoga, dem Yoga des Wissens, geht es um die Erkenntnis der wahren Natur des Selbst. Die ersten drei Verse werden als Wegweiser zur Selbsterkenntnis und Befreiung vom Kreislauf von Geburt und Tod verstanden.
Praktische Implikationen für die Yoga-Praxis
Die ersten drei Verse des Yoga Sutra bieten eine Grundlage für unsere Yoga-Praxis und unser Leben:
- Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment: Der erste Vers erinnert uns daran, im „Jetzt“ zu sein und uns nicht von der Vergangenheit oder der Zukunft ablenken zu lassen. Dies können wir im Alltag üben, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf den gegenwärtigen Moment richten, z.B. beim Essen, beim Gehen oder beim Atmen.
- Kontrolle der Gedanken: Der zweite Vers zeigt uns, dass Yoga nicht nur körperliche Übungen sind, sondern auch die Schulung des Geistes beinhaltet. Techniken wie Meditation, Pranayama und die bewusste Beobachtung der Gedanken (Pratyahara) helfen uns, die Gedankenwellen zu kontrollieren und zur Ruhe zu bringen.
- Erkenntnis des wahren Selbst: Der dritte Vers führt uns zur Essenz des Yoga, der Verbindung mit unserem wahren Selbst. Indem wir unsere Gedanken und Emotionen beobachten, ohne uns mit ihnen zu identifizieren, können wir die wahre Natur des Sehers erkennen.
Durch die Praxis von Asanas, Pranayama und Meditation können wir die Gedankenwellen beruhigen und den Zustand des Yoga erfahren, in dem der Seher in seiner wahren Natur ruht.
Schlussfolgerung
Die ersten drei Verse des Yoga Sutra bieten eine tiefgründige Einführung in die Philosophie und Praxis des Yoga. Sie zeigen uns den Weg zur inneren Stille und zur Erkenntnis unseres wahren Selbst. Durch die Integration dieser Prinzipien in unsere Yoga-Praxis und unser tägliches Leben können wir ein tieferes Verständnis von Yoga entwickeln und die transformative Kraft dieser alten Tradition erfahren. Die in diesen Versen enthaltenen Weisheiten sind zeitlos und können uns helfen, ein erfüllteres und bewussteres Leben zu führen, frei von den Fesseln des Geistes und in Verbindung mit unserer wahren Natur. Letztendlich führen sie uns auf den Weg zur Befreiung (Kaivalya), dem Ziel des Yoga.
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