Die Yoga Sutras von Patanjali sind eine Sammlung von 196 Aphorismen (Sutras), die die Philosophie und Praxis des Yoga beschreiben. Im zweiten Kapitel, Vers 28, führt Patanjali den achtgliedrigen Pfad (Ashtanga Yoga) ein, der einen Leitfaden für ein ethisches und spirituelles Leben bietet und letztendlich zur Befreiung (Samadhi) führt. Durch die Ausübung der acht Glieder des Yoga werden Unreinheiten vermindert und das Wissen bis zur Erkenntnis der Unterscheidung erleuchtet. Dieser Artikel befasst sich mit den Versen II,28 bis III,10 des Yoga Sutra und erläutert die acht Stufen des Pfades im Detail.  

Was ist der achtgliedrige Pfad?

Der achtgliedrige Pfad ist kein linearer Prozess, sondern eher ein dynamisches Zusammenspiel verschiedener Praktiken, die sich gegenseitig unterstützen und ergänzen. Er ist in drei Hauptgruppen unterteilt:

  • Ethisches Verhalten (Yama und Niyama): Diese bilden die Grundlage für ein Leben in Harmonie mit sich selbst und der Umwelt. Sie schaffen die Basis für die weiteren Stufen des Pfades.
  • Körperliche und geistige Disziplin (Asana und Pranayama): Durch die Beherrschung des Körpers und des Atems wird der Geist geschult und auf die Meditation vorbereitet. 
  • Meditation (Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi): Die letzten vier Stufen führen zur inneren Ruhe, Konzentration und letztendlich zur Vereinigung mit dem universellen Bewusstsein.

Der achtgliedrige Pfad ist also ein Weg der schrittweisen Entwicklung, bei dem jede Stufe auf der vorherigen aufbaut und auf das letztendliche Ziel der Befreiung hinführt.

Die acht Stufen im Detail

1. Yama (Verhaltensregeln gegenüber der Außenwelt)

Yama umfasst fünf Prinzipien, die den Umgang mit anderen Menschen und der Welt regeln:

  • Ahimsa (Gewaltlosigkeit): Ahimsa bedeutet, in Gedanken, Worten und Taten keinem Lebewesen Schaden zuzufügen. Dies beinhaltet nicht nur physische Gewalt, sondern auch verbale Aggressionen, negative Gedanken und unachtsames Verhalten. Im Alltag kann Ahimsa durch respektvolle Kommunikation, Mitgefühl und bewussten Konsum praktiziert werden. So kann man beispielsweise bei Konflikten versuchen, ruhig und verständnisvoll zu reagieren, anstatt aggressiv zu werden. Auch im Umgang mit Tieren und der Umwelt kann man Ahimsa praktizieren, indem man auf eine vegetarische oder vegane Ernährung achtet und Produkte aus nachhaltiger Produktion wählt. 
  • Satya (Wahrhaftigkeit): Satya bedeutet, ehrlich zu sich selbst und anderen zu sein. Es geht darum, authentisch zu leben und die Wahrheit in Übereinstimmung mit den eigenen Werten und Überzeugungen auszudrücken. Im Alltag kann Satya durch achtsame Kommunikation, Integrität und das Vermeiden von Lügen und Täuschungen praktiziert werden. Man sollte versuchen, seine Meinung klar und respektvoll zu äußern, auch wenn sie von der Meinung anderer abweicht. Wichtig ist dabei, dass man bei der Wahrheit bleibt und sich nicht von Ängsten oder dem Wunsch nach Anerkennung leiten lässt. 
  • Asteya (Nicht-Stehlen): Asteya bedeutet, nicht zu nehmen, was einem nicht gehört. Dies bezieht sich nicht nur auf materielle Dinge, sondern auch auf Zeit, Energie und Ideen. Im Alltag kann Asteya durch Respekt vor dem Eigentum anderer, Ehrlichkeit und Dankbarkeit praktiziert werden. Man sollte beispielsweise keine Dinge benutzen, die einem nicht gehören, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Auch das Kopieren von Ideen oder das Ausnutzen der Zeit und Energie anderer Menschen widerspricht dem Prinzip von Asteya. 
  • Brahmacharya (sexuelle Enthaltsamkeit): Brahmacharya wird oft als sexuelle Enthaltsamkeit interpretiert, kann aber auch als verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen sexuellen Energie verstanden werden. Im modernen Kontext kann Brahmacharya als Achtsamkeit im Umgang mit Beziehungen, Vermeidung von sexueller Ausbeutung und Respekt vor den Grenzen anderer interpretiert werden. Es geht darum, die eigene Sexualität in einer Weise zu leben, die mit den eigenen Werten und den Bedürfnissen des Partners übereinstimmt. 
  • Aparigraha (Nicht-Besitzergreifen): Aparigraha bedeutet, nicht an materiellen Dingen oder emotionalen Anhaftungen festzuhalten. Es geht darum, Loslassen zu lernen und sich von der Gier nach Besitz zu befreien. Im Alltag kann Aparigraha durch Minimalismus, Teilen und die Kultivierung von Zufriedenheit praktiziert werden. Man kann beispielsweise bewusst darauf achten, keine unnötigen Dinge anzuhäufen und sich von Dingen trennen, die man nicht mehr benötigt. Auch das Teilen von Besitztümern und das Geben von Zeit und Aufmerksamkeit an andere Menschen sind Ausdruck von Aparigraha.

2. Niyama (Verhaltensregeln gegenüber der Innenwelt)

Niyama umfasst fünf Prinzipien, die den Umgang mit sich selbst betreffen:

  • Saucha (Reinheit): Saucha bezieht sich auf Reinheit auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene. Körperliche Reinheit kann durch Hygiene, gesunde Ernährung und Yoga-Praxis erreicht werden. Geistige Reinheit bedeutet, negative Gedanken und Emotionen loszulassen. Im Alltag kann Saucha durch Meditation, Achtsamkeit und positive Affirmationen praktiziert werden. Man kann beispielsweise regelmäßig meditieren, um den Geist zu beruhigen und negative Gedanken loszulassen. Auch eine gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf tragen zur körperlichen und geistigen Reinheit bei. 
  • Santosha (Zufriedenheit): Santosha bedeutet, mit dem zufrieden zu sein, was man hat, und Dankbarkeit für die Gegenwart zu empfinden. Es geht darum, sich von Vergleichen und dem Streben nach immer mehr zu befreien. Im Alltag kann Santosha durch Dankbarkeitstagebuch, Meditation und die Wertschätzung der kleinen Dinge praktiziert werden. Man kann beispielsweise jeden Tag drei Dinge aufschreiben, für die man dankbar ist, oder sich bewusst Zeit nehmen, um die Schönheit der Natur zu genießen.
  • Tapas (Selbstdisziplin): Tapas bedeutet, Disziplin und Ausdauer im Yoga und im Leben zu entwickeln. Es geht darum, Herausforderungen anzunehmen und Hindernisse zu überwinden, um seine Ziele zu erreichen. Im Alltag kann Tapas durch regelmäßige Yoga-Praxis, gesunde Gewohnheiten und das Einhalten von Vorsätzen praktiziert werden. Man kann sich beispielsweise ein Ziel setzen, jeden Tag Yoga zu praktizieren, oder sich bewusst gesünder zu ernähren. Wichtig ist dabei, dass man diszipliniert bleibt und auch bei Schwierigkeiten nicht aufgibt.
  • Svadhyaya (Selbststudium): Svadhyaya bedeutet, sich selbst und die Welt um sich herum zu erforschen. Dies kann durch das Studium von spirituellen Texten, Reflexion und Selbstbeobachtung geschehen. Im Alltag kann Svadhyaya durch Meditation, Journaling und das Hinterfragen der eigenen Gedanken und Verhaltensmuster praktiziert werden. Man kann beispielsweise regelmäßig meditieren und dabei die eigenen Gedanken und Gefühle beobachten, oder ein Tagebuch führen, um die eigenen Erfahrungen zu reflektieren.
  • Ishvara Pranidhana (Hingabe): Ishvara Pranidhana bedeutet, sich einer höheren Macht oder dem Göttlichen hinzugeben. Es geht darum, das Ego loszulassen und Vertrauen in das Leben zu entwickeln. Im Alltag kann Ishvara Pranidhana durch Gebet, Meditation und die Akzeptanz von Dingen, die man nicht kontrollieren kann, praktiziert werden. Man kann beispielsweise regelmäßig beten oder meditieren und dabei die eigenen Sorgen und Ängste loslassen. Auch die Akzeptanz von Schicksalsschlägen und die Erkenntnis, dass man nicht alles kontrollieren kann, sind Ausdruck von Ishvara Pranidhana.

3. Asana (Körperhaltungen)

Asanas sind die körperlichen Übungen des Yoga. Sie dienen dazu, den Körper zu stärken, zu dehnen und zu reinigen. Durch die Asana-Praxis wird die Körperwahrnehmung geschult, die Energiebahnen (Nadis) werden geöffnet und der Geist wird beruhigt. 

4. Pranayama (Atemkontrolle)

Pranayama bezeichnet die bewusste Kontrolle des Atems. Durch verschiedene Atemtechniken wird der Fluss der Lebensenergie (Prana) im Körper reguliert. Pranayama beruhigt den Geist, reduziert Stress und erhöht die Konzentration. 

5. Pratyahara (Sinnesrückzug)

Pratyahara bedeutet, die Sinne von den äußeren Reizen zurückzuziehen und nach innen zu lenken. Dies geschieht, indem man die Aufmerksamkeit auf den Atem, den Körper oder einen inneren Punkt richtet. Pratyahara fördert die Konzentration und bereitet den Geist auf die Meditation vor. Ein Beispiel für Pratyahara im Alltag wäre, während eines Spaziergangs die Aufmerksamkeit bewusst auf die Empfindungen in den Füßen zu lenken, anstatt sich von den Geräuschen und visuellen Reizen der Umgebung ablenken zu lassen. 

6. Dharana (Konzentration)

Dharana ist die Fähigkeit, den Geist auf einen einzigen Punkt zu fokussieren. Dies kann ein Objekt, ein Mantra oder der Atem sein. Durch Dharana wird die Konzentrationsfähigkeit gestärkt und der Geist wird ruhig und klar. Im Alltag kann Dharana beispielsweise beim Lesen eines Buches praktiziert werden, indem man versucht, die Aufmerksamkeit ganz auf den Text zu richten und sich nicht von anderen Gedanken ablenken zu lassen. 

7. Dhyana (Meditation)

Dhyana ist ein Zustand tiefer Versenkung, in dem der Geist zur Ruhe kommt und frei von Gedanken ist. In der Meditation erfährt man innere Ruhe, Klarheit und tiefe Einsichten. 

8. Samadhi (Erleuchtung)

Samadhi ist das Ziel des Yoga. Es ist ein Zustand der Einheit mit dem universellen Bewusstsein, in dem alle Dualität und Trennung überwunden sind. Samadhi ist ein Zustand der vollkommenen Freiheit, Glückseligkeit und Selbsterkenntnis. 

Commitment und Faith in Yoga

TKV Desikachar, ein bekannter Yogalehrer, betont in seinem Kommentar zu Vers II,28 die Bedeutung von „Anusthanat“ (Commitment) und „Śraddhā“ (Glaube) für die Praxis des Yoga. Commitment bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man sich der Praxis des Yoga verpflichtet und auch in schwierigen Zeiten oder bei Rückschlägen nicht aufgibt. Glaube hingegen bezieht sich auf das Vertrauen in die Lehren des Yoga und die eigene Fähigkeit, den Pfad zu beschreiten. Desikachar sieht Commitment und Glaube als essentielle Voraussetzungen für den Erfolg im Yoga. Diese Hingabe und das Vertrauen in den Prozess ermöglichen es, die Herausforderungen des achtgliedrigen Pfades zu meistern und die Früchte der Praxis zu ernten. Dies korrespondiert auch mit dem Prinzip von Tapas (Selbstdisziplin), welches die notwendige Ausdauer und Willenskraft für die kontinuierliche Praxis des Yoga betont.

Der achtgliedrige Pfad im Alltag

Der achtgliedrige Pfad ist nicht nur eine philosophische Theorie, sondern ein praktischer Leitfaden für ein erfülltes Leben. Jeder Schritt kann im Alltag umgesetzt werden, um mehr Achtsamkeit, Frieden und Harmonie in das eigene Leben zu bringen.

Yama im Alltag:

  • Ahimsa: Im Beruf kann Ahimsa durch respektvolle Kommunikation mit Kollegen und Vorgesetzten praktiziert werden, auch in stressigen Situationen. Bei Konflikten kann man versuchen, die Perspektive des anderen zu verstehen und eine friedliche Lösung zu finden.
  • Satya: Im Umgang mit Freunden und Familie kann Satya bedeuten, ehrlich seine Gefühle auszudrücken und authentisch zu sein, anstatt eine Rolle zu spielen.
  • Asteya: Asteya kann im Alltag bedeuten, die Zeit und Energie anderer Menschen zu respektieren, indem man beispielsweise Pünktlichkeit einhält und Vereinbarungen einhält.
  • Brahmacharya: Brahmacharya kann im Alltag bedeuten, achtsam mit sexuellen Reizen umzugehen und Beziehungen mit Respekt und Verantwortung zu führen.
  • Aparigraha: Aparigraha kann im Alltag bedeuten, bewusst Konsum zu vermeiden und Dinge zu teilen, anstatt sie zu horten.

Niyama im Alltag:

  • Saucha: Saucha kann im Alltag durch regelmäßige Reinigung der Wohnung, gesunde Ernährung und körperliche Hygiene praktiziert werden.
  • Santosha: Santosha kann im Alltag bedeuten, sich auf die positiven Aspekte des Lebens zu konzentrieren und Dankbarkeit für die kleinen Dinge zu empfinden.
  • Tapas: Tapas kann im Alltag bedeuten, regelmäßig Sport zu treiben, gesunde Gewohnheiten zu entwickeln und an seinen Zielen festzuhalten.
  • Svadhyaya: Svadhyaya kann im Alltag bedeuten, Bücher zu lesen, neue Dinge zu lernen und sich mit philosophischen oder spirituellen Fragen auseinanderzusetzen.
  • Ishvara Pranidhana: Ishvara Pranidhana kann im Alltag bedeuten, sich Zeit für Meditation oder Gebet zu nehmen und Vertrauen in das Leben zu entwickeln.

Asana, Pranayama und Pratyahara im Alltag:

  • Kurze Yoga-Übungen oder Atemübungen können in den Alltag integriert werden, um Stress abzubauen und die Konzentration zu fördern.
  • Pratyahara kann im Alltag bedeuten, sich bewusst Zeit für Ruhe und Stille zu nehmen und die Sinne von äußeren Reizen zu entlasten.

Dharana und Dhyana im Alltag:

  • Konzentrationsübungen, wie beispielsweise das Fokussieren auf den Atem, können in den Alltag integriert werden, um die Aufmerksamkeit zu schulen.
  • Kurze Meditationseinheiten können helfen, inneren Frieden zu finden und den Geist zu beruhigen.

Zusammenfassung

Der achtgliedrige Pfad des Yoga Sutra bietet einen ganzheitlichen Ansatz für persönliches Wachstum und spirituelle Entwicklung. Durch die Integration der acht Stufen in den Alltag kann man ein Leben in Balance, Harmonie und innerem Frieden führen. Yama und Niyama bilden die ethische Grundlage für die Praxis, während Asana und Pranayama den Körper und den Geist auf die Meditation vorbereiten. Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi führen schließlich zur inneren Ruhe, Konzentration und letztendlich zur Vereinigung mit dem universellen Bewusstsein. Wie TKV Desikachar betont, spielen Commitment und Glaube eine wichtige Rolle im Yoga, da sie die notwendige Ausdauer und das Vertrauen in den Prozess ermöglichen, um die Herausforderungen des Pfades zu meistern.


inRelax® – Yoga und Workshops in Krefeld   |   Den inRelax® Yoga Blog abonnieren!   | 08.02.2025 Meditations-Workshop im inRelax®